Was lange währt wird schließlich, naja also es wird jedenfalls irgendwann mal fertig, ob es gut ist müssen andere befinden. Jedenfalls gibt es nun die Kurzgeschichte aus Feaharns Vergangenheit. Ich hoffe sie gefällt euch.

Feaharn Lathspell
Feaharn Lathspell

Der die Schatten jagt

Es war der Abend der Mittsommerwende. Über Rinsten stieg Rauch zum sternenklaren Himmel empor und ein lautes Gewirr von Schreien und Stimmen übertönte den Klang das nahebei fließenden Baches. Auf den Schindeln des Rathausdaches spielte der Schein des Feuers ein verworrenes Ballett. Um das Feuer saßen Männer und Frauen an langen Tischen und aßen und tranken. Einige tanzten nahebei zu den Klängen einer Fiedel, einer Flöte und einer Trommel. Die Kinder des Dorfes, so sie nicht schon schliefen, saßen abseits auf der Veranda des Metzgers zu Füßen eines alten Mannes. Der Alte trug einen groben Kittel und neben ihm lagen ein geflickter Ranzen und ein Stecken. Dieser mochte wohl auf seinen Wanderungen, von denen seine Schuhe abgelaufen waren, dienlich sein, sei es als Stütze, sei es um einen allzu aufdringlichen Köter zu verscheuchen.

„Onkel Goidemar“, verlangte ein junger Bursche von vielleicht 9 Jahren, „erzähle uns doch noch eine Geschichte!“

„Ja, ja, noch eine Geschichte!“, fielen die anderen Kinder mit ein.

„Ruhe, ihr Rotznasen!“, grummelte der Alte. „Ich glaube nicht, dass ich euch noch eine Geschichte erzählen sollte. Denn der Mond steht noch hoch am Himmel und es ist spät. Wenn ihr noch länger wach bleibt, seid ihr morgen bei der Arbeit müde und dann hetzen mich eure Eltern mit den Hunden aus dem Dorf.“

Ein Sturm der Entrüstung, brach unter den Kindern los. Eines schlug sogar einen Purzelbaum, um zu beweisen, wie wach es noch sei.

„Ruhe, habe ich gesagt“, fuhr der Alte wieder dazwischen. „Selbst wenn ich noch eine Geschichte erzähle, muss einer von euch nach Hause gehen und mir einen Krug mit Sauermilch, oder besser Wein holen. Denn vom Reden wird mir die Kehle trocken und die Stimme wund. Und außerdem muss Einigkeit bestehen, was für eine Geschichte ich erzählen soll.“

Wieder begannen die Kinder durcheinander zu rufen und überschrien sich gegenseitig im Versuch eine Geschichte nach ihrem Geschmack einzufordern. „Eine Lustige“, verlangte ein Kind. „Eine spannende“, verlangte ein anderes. „Eine über Liebe“, verlangte Frai, die Tochter des Müllers, ihre blauen Augen leuchteten unter ihren blonden Zöpfen. „Noch ein paar Jahre und ich würde ihr zu gerne, eine Geschichte über Liebe erzählen“, dachte der Alte bei sich, während er die Flut über ich ergehen ließ. „Eine gruselige“, verlangte ein Junge jetzt, „In einer solchen Nacht sollte man eine gruselige Geschichte erzählen.“ „Keine Gruselgeschichte“, murrte die Jüngste, von allen nur Däumelinchen genannt.

„Ruhe zum Teufel, habt ihr nicht gehört, was der Alte gesagt hat? Es muss Einigkeit herrschen, aber ihr kreischt ja herum, wie eine Schar Dohlen auf dem Dach.“, sprach nun Tommin, mit 14 der älteste. „Alter, erzähl uns doch die Geschichte von Feaharn Lathspell und sein Abenteuer bei Graf Dupez. Die sollte allen gefallen. Sie ist spannend und auch etwas gruselig. Und ich will derweil zusehen, dass ich euch etwas zu trinken besorge.“

Es herrschte allgemein zustimmendes Gemurmel, nur Däumelinchen nahm die Hand ihres Bruders Tommin und flüsterte: „Aber nicht zu gruselig.“

„Also dann“, hob der Alte an, „die Geschichte von Feaharn Lathspell bei Graf Dupez soll es sein. Sie trug sich zu vor vielen Jahren, als die Menschen noch Mut und Götterfurcht kannten…“

Der Reiter war gegen Mittag nach Atola gekommen. Von der staubigen Landstraße her war er bei den Gerbern und Färbern in den Gestank und das Treiben der Stadt eingetaucht. Obgleich es nicht sonderlich kalt war noch regnete trug er einen dunklen Mantel und die Kapuze über das Haupt gezogen. Unter ihr ihr hervor schauten eindringliche Augen aus einem von blonden Haaren umrahmten Gesicht auf die Ansammlung der Häuser, die sich um den Felssporn und die darauf befindliche Burg lagerten. Einige Minuten verharrte er reglos auf dem Rücken seiner braunen Stute. Weder schien er von den neugierigen Blicken der spielenden Kinder noch den ängstlichen ihrer älteren Geschwister Notiz zu nehmen. Ein Windstoß wehte von hinten heran und vertrieb für einen Moment den Dunst aus den Gerbergruben mit dem Geruch nach trockenem Gras und Beifuß.

Wortlos stieß der Reiter sein Pferd sacht mit den Fersen und lenkte es auf die Straße zum Hügel. Die Hufe stampften auf der staubigen Erde und auch wenn er zu Pferde war, kam er nur langsam voran. Eine Weile ritt er hinter einem mit Stroh beladenen Wagen. Er hätte ihn überholen können, doch wartete er bis der Wagen in eine Seitenstraße abbog. Die Hauptstraße selbst führte im Schwung den Hügel hinauf. Oben mündete sie auf einen Platz in dessen Mitte ein großer Lindenbaum stand. In seinem Schatten trieben zwei Jungen ihre Reifen um die Wette, der Klang ihrer Stöcke und ihres Gelächters und Geschreis hallten von der steinernen Burgmauer wieder. Als der Reiter den Platz zum dem in der Mauer befindlichen Torhaus der Burg überquerte, unterbrachen sie ihr Spiel für einen Moment, schauten ihm nach, während die Reifen zu Boden klapperten. Im Tordurchgang war es für einen Moment angenehm kühl, doch war es nur ein kurzer Aufschub von der Hitze des kleinen Burghofs, eingezäunt von hohen Mauern und Giebeln. Der Reiter lenkte sein Pferd am Brunnen in der Mitte des Hoofes und den Ställen vorbei zum Palas und stieg ab. Vor der von Efeu und wildem Wein überwucherten Front führten drei flache Stufen zu einem kleinen Podest empor. Mit der behandschuhten Rechten fuhr er der Stute über die Nüstern und den Hals, dann wand er die Zügel um einen Pfosten der aus Eichenholz geschnitzten Balustrade und trat ins Haus des Grafen.

Im Inneren war es dunkel. Die Fenster aus Butzenglas waren verhangen und verstellt und nur einige Kerzen und ein kleines Feuer im Kamin verbreiteten spärliches Licht in der großen Halle. Ein schwacher Geruch nach Rauch, Zwiebeln und Wacholder lag in der Luft. Einen Moment hielt der Reiter inne, um seine Sinne ans Innere zu gewöhnen. Schließlich machte er zwei Gestalten neben der Feuerstelle aus. Er durchmaß die Halle, beim Klang seiner Schritte wandten sich die Gestalten ihm zu. „Wer seid ihr und was wollt ihr in meiner Halle?“

„Graf Dupez da Toldaro?“, fragte der Reiter.

„Höchstselbst.“

„Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Lathspell. Ich bin auf dem Weg nach Süden und hielt in Atola, da ich hörte ein Freund von mir, ein Zwerg namens Perce Mogunt, wäre bei euch zu Gast.“

„Jaja, er war hier.“ Der Graf hatte eine tiefe sonore Stimme, solcher Art wie sie Gelassenheit und Selbstsicherheit vermitteln, nur gestört vom Klang ungezügelter Ungeduld. Der Blick seiner schwarzen Augen bohrte sich in den Fremden. „Fragt meinen Druiden, lasst mich in Frieden.“ Unwirsch fuchtelte er mit der Hand, die in sein Gewand gewebten Silberfäden blitzten und er stürmte zur Seite durch eine Tür, die hinter ihm dumpf ins Schloss fiel.

„Grüß dich, Lathspell!“, hob der Druide an, „Bei Mutter Natur, wenn das keine Überraschung ist. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Es müssen seit der Geschichte mit diesem unseligen Flügelviech mindestens vier Jahre vergangen sein. Damals hast du mich aufgesucht, um Herbstzeitlosen zu kaufen.“

„Kassbad. Von allen Plätzen auf dieser Welt ist das der letzte, an dem ich dich erwartet hätte. Erinnere ich mich falsch oder benutztest du die Begriffe ‚Hofzauberer‘ und ‚blutsaugendes Geschmeiß‘ nicht gerne in einem Satz?“

„Jaja, mach dich nur lustig über mich. Aber auch wenn du jetzt bedeutungsschwer mit der Stirn runzelst, ich bin nicht der Hofzauberer von Dupez. Vielmehr machte sich der Graf in letzter Zeit Sorgen um seinen Gesundheitszustand und nachdem mehrere Doktoren der medizinischen Fakultät ihm nicht helfen konnten ließ er nach mir schicken. Ich gebe zu, dass ich ungern hierhergekommen bin, aber der Graf bestand darauf. Er kann sehr… überzeugend sein.“

„Wenn du mit überzeugend unhöflich meinst.“

Kassbad runzelte seine Stirn. Mit dem von grauen Strähnen durchzogenen Haar und der dunklen Robe erinnerte er ein wenig an einen Dachs. „Ja, in gewisser Weise auch das.“ Rasch warf er einen Blick auf die Tür, hinter der der Graf da Toldaro verschwunden war. „Lathspell, du sagtest du seist wegen Perce Mogunt hier. Er ist bereits vor zwei Tagen wieder abgereist. Ich glaube er wollte nach Sankt Annen. Wenn du es eilig hast halte ich dich nicht auf, aber wenn du etwas Zeit hast, bring doch dein Pferd in den Stall und lass es versorgen. Ich muss nach dem Grafen sehen und bin dann gleich bei dir. Hier im Dunkeln muss man ja verrückt werden.“

„In Ordnung.“

Mit einem Anflug von Erleichterung wandte sich Kassbad ab und ging. Als der Reiter aus der Halle trat musste er unwillkürlich die Augen zusammenkneifen. Nach der rauchigen Düsternis der Halle blendete die helle Mittagssonne, stach durch seine Pupillen. Er trat von der kleinen Empore und band seine Stute los. Am Zügel führte er sie zum Stall neben dem Tor, die beschlagenen Hufe stampften dumpf auf den festgetretenen Boden. „Sieht so aus als würden wir ein paar Tage hierbleiben, Diana. Ich bin neugierig, was Kassbad hier tut. Und ein Paar Nächte abseits der Straße werden uns beiden guttun.“ Die Stute schaute ihn aus ihren großen Augen an und schnaubte leise.

Ein Stallbursche eilte ihm entgegen, mit einer Hand nach den Zügeln greifend, doch mit einem kurzen Kopfschütteln bedeutete der Reiter ihm zu seinem Platz im Schatten und seinem Nickerchen zurück zu gehen. Im Stall löste er die Trense aus dem Geschirr und führte Diana zu den Krippen. Dankbar steckte sie den Kopf in einen Sack mit Hafer, während Lathspell sich an den Gurten der Satteltaschen zu schaffen machte. Er band die Scheide eines langen Schwertes los und lehnte sie an die Wand des Stalles. Die Satteltaschen hängte er zusammen mit dem Sattel über eine Abtrennung. Als er gerade die Satteldecke dazu hängen wollte trat Kassbad hinter ihm in den Stall.

„Freut mich zu sehen, dass du noch eine Weile zu bleiben gedenkst. Perce wirst du schon noch einholen und Atola ist wirklich schön um diese Jahreszeit. Der Staub deckt den Gestank aus den Gerbereien zu und die Pferdescheiße trocknet so schnell, dass sie gar nicht erst stinken kann.  Wenn du noch ein paar Tage länger bleibst kannst du dir auf unserem berühmten Sommerfest ein Mädel anlachen. An Feiertagen sind sie immer ganz wild und ausgelassen.“

„Kassbad, ich bin nicht hier, um mich auf Volksfesten herum zu treiben.“

„Natürlich, natürlich. Komm gehen wir aus dem Stall. Draußen geht wenigstens ein Wind. Hier drin erstickt man ja noch. Nimm dein Zeug ruhig mit dann erzähle ich dir, warum ich dich gebeten habe zu bleiben.“

Sie traten aus dem Stall in die sengende Sonne. Sein Bündel über der Schulter und das Schwert in der dunklen Scheide in der Hand folgte Lathspell Kassbad über den Hof und durch das Tor bis unter die Zweige des Lindenbaums in dessen Schatten sie sich auf eine niedrige Bank aus abgewetztem Eichenholz setzten. Die grünen Zweige schenkten einen angenehmen Schutz gegen die gleißende Sonne und raschelten leise im Wind. Mit dem Rücken an die raue Rinde des Stammes gelehnt wandte sich Kassbad wieder an den Reiter.

„Nun denn, ich wollte dir erzählen, weshalb ich dich zu bleiben gebeten habe. Wie gesagt, der werte Herr Graf ließ nach mir schicken, denn ihn plagten seit geraumer Zeit gar fürchterliche Kopfschmerzen. Wie du scharfsinnig bemerktest treibe ich mich nicht gerne bei Hofe herum, weder bei großen noch bei kleinen. Aber wenn einem in Aussicht gestellt wird Nase und Ohren abgeschnitten zu bekommen, ist man doch gemeinhin bereit seine Abscheu zu zügeln. Ich hänge durchaus an beidem und Dinge nachwachsen zu lassen ist ein langwieriges und unangenehmes Unterfangen. Einerlei, offensichtlich bin ich dem Ruf gefolgt.

Als ich auf Burg Atola ankam stellte sich heraus, dass der hochwohlgeborene Graf von Dupez bereits drei Medizinalräte höchst unfreundlich aus seinem Haus gebeten hatte. Bis auf den Schrecken waren sie wohl heile, aber sie müssen bei ihrer Abreise eine Staubwolke hinterlassen haben, dass die Sonne trübe wurde. Eine eingehende Untersuchung meinerseits ergab neben den periodisch Auftretenden Kopfschmerzen eine ausgeprägte Abneigung gegen Sonnenlicht. Du hast ja selbst gesehen, wie es im Palais aussieht.“

„Klingt nach einem höchst unerfreulichen Fall von Migräne. Du solltest es vielleicht mit einem Absud von Weidenrinde versuchen.“

„Lehr den Großvater nicht husten, Lathspell. Ich bin schließlich nicht umsonst Druide geworden und wenn du mich nicht mit deinen geistreichen Kommentaren unterbrechen würdest, könnte ich auch weitererzählen. Wo war ich? Ach richtig bei der Weidenrinde. Denselben Gedanken hatten auch schon die Herren Medizinalräte vor dir, dass er nicht von Erfolg gekrönt war, brauche ich nicht weiter zu erzählen. Außerdem gehört die Stimmen der Götter zu hören nicht zu den typischen Symptomen einer Migräne.“

„In der Tat, aber wie du weißt sind Götter auch nicht unbedingt mein Metier. Ein Kleriker wäre vielleicht eher angebracht.“

Der Zauberer warf ihm einen finsteren Blick zu. „Von denen halte ich genau so wenig wie du. Und nein, das scheint mir kein Fall für einen Kleriker zu sein. Der Graf ist keineswegs für seine Religiosität bekannt. Diese trat wohl zusammen mit den Kopfschmerzen auf. Und es ist auch keineswegs ein genereller Zustand, vielmehr nur, wenn die Götter zu ihm sprechen. Dann ist er nicht mehr wirklich er selbst.

Sein Gerede von den Göttern halte ich dennoch für ausgemachten Unsinn. Keine Götter, die ich kenne, könnten so etwas mit einem Menschen machen.“

„Was dann?“

„Das ganze geht jetzt etwas mehr als einen Monat so.“ Kassbad drehte seinen Stab in den Händen hin und her während er sprach. „Zwei Tage ist er irrer als ein Haufen Hühner und dann wieder eine Woche er selbst. Du solltest mal seine Bediensteten hören, was er so anstellt. Gerüchteweise gibt es keinen einzigen Spiegel mehr und auch das Silberbesteck hat gelitten.Aber viel interessanter finde ich, dass das ganze nur zwei Wochen nach dem Tod seines Sohnes begann.

Cortao hieß er, war ein guter Junge. Kräftig, willensstark und für seine 19 Jahre mit einem überraschenden Weitblick. Die Mägde waren ganz verrückt nach ihm und er hat sie wohl auch nicht unbedingt verschmäht, wenn man dem Getratsche der Bediensteten Glauben schenkt. Er wäre ein würdiger Nachfolger seines alten Herren geworden. Zu dumm, dass er nicht mehr lebt.“

Kassbad seufzte und fegte mit der Hand ein Lindenblatt von seiner Robe.

„Ein Vrock hatte sich in der Gegend herumgetrieben, ein paar Schafe gefressen und die Bauern verschreckt. Ich muss dir ja nicht groß erklären, wie sowas aussieht. Das Geschrei war jedenfalls groß. Tagelang standen sie hier vor dem Tor und verlangten, dass er jemanden kommen lassen sollte, der sich um das elende Mistviech kümmert. Wäre wohl für uns alle das beste gewesen, wenn du damals auch in der Nähe gewesen wärst. Sowas ist ja dein Metier, es hätte den Grafen zwar ein Paar Kronen gekostet, aber wir hätten jetzt unsere Ruhe. So kannst du nur noch die Sauerei aufräumen.

Wie auch immer, die Bauern verlangen jedenfalls, dass Graf Dupez sich darum kümmern soll. Der tut wie alle edlen Herren besorgt und verspricht ihnen beim Grabe seiner Mutter, dass er sich darum kümmert. Allerdings hängt er keinen Auftrag an die Kreuzwege, sondern fängt an Cortao zu bearbeiten. Der Junge solle seine Männlichkeit beweisen und das Viech erschlagen. Cortao versuchte wohl seinem Vater die Sache aus zu reden, er kannte die Anwandlungen des Grafen bestens, aber es war vergebens. Und als dann noch die Frauenzimmer mit den Wimpern klimperten und fragten, ob er ihnen Zähne des Ungeheuers mitbringen würde, war es endgültig um ihn geschehen.“

Er lachte kurz und bellend.

„Ach ja, noch einmal so jung sein. Ich erinnere mich als ich frisch von der Akademie kam, noch grün hinter den Ohren aber der Meinung ich könne mir die Welt Untertan machen. Ich habe in jugendlichem Überschwang einer gewissen Kaufmannstochter Federn eins Greifens versprochen, der gerade in den Herden plünderte.“

„Sich allein einem Greifen zu stellen ist definitiv ein mutiges Unterfangen. Auch wenn man über magische Fähigkeiten verfügt.“

Wieder lachte Kassbad.

„Wo denkst du hin? Mit ihm Anlegen wollte ich mich nicht. Ich wirkte einen Unsichtbarkeitszauber und kletterte zu seinem Nest hinauf. Sie polstern die ja gerne mit ihren Federn für die Küken. Und genau ohne die hatte ich auch meine Rechnung gemacht. Die Mutter war unterwegs, darauf hatte ich geachtet, aber eines der Jungtiere griff mich an, als ich gerade mit den Federn türmen wollte. Ich frage mich bis heute, wie es meinen Zauber durchbrechen konnte.“

„Gar nicht. Aber Greifen verlassen sich bei der Jagd fast genau so sehr auf ihr Gehör, wie auf ihre Augen.“

„So? Nun das könnte die Sache erklären. Das Biest hat mir ordentlich den Arm aufgerissen. Vor Schreck rutschte ich ab und schlitterte den Hang hinunter, bis fast vor die Füße besagten Mädchens. Sie war hin und weg, als sie die Federn sah und behandelte mich wie einen wahren Helden. Da ließen sich die Schrammen durchaus verkraften. Insbesondere, wenn man zuvor fünf Jahre auf einer reinen Jungenschule verkraftet hat. Trotzdem verlies ich die Stadt zwei Tage später als ein neuer Angriff gemeldet wurde. Aber das tut nichts weiter zur Sache, zurück zum Thema.

Cortao zog also mit einem kleinen Gefolge aus, um den Vrock zu erlegen. Cortao war ein fähiger Bursche, aber gegen den Vrock hatte er trotzdem keine Chance. Die Anwesenden schwören, man habe seine Eingeweide noch in zehn Schritt Entfernung gefunden. Das Gefolge floh wie die Hasen als es das Gemetzel sah. Man kann es ihnen wohl nicht verübeln.

Als die Nachricht den werten Grafen erreichte war er zutiefst bestürzt. Er heulte und verfluchte sich selbst, seinen Sohn in den Tod getrieben zu haben. Nur schwerlich konnten die Diener ihn davon abhalten den Leichnam direkt zu bergen, er wäre wohl ähnlich unerfreulich geendet. Es dauerte drei Tage bis sich genug Männer fanden, um das zu holen, was der Vrock übriggelassen hat. Viel war es nicht. Ein Paar Knochen, ein Kettenhemd und ein paar Fetzen. Man hat ihn ehrenvoll verbrannt. Doch seitdem geht es mit dem Grafen bergab.“

Bedächtiges Schweigen legte sich über die Bank und den Innenhof, nur gestört vom Zirpen der Grillen, dem Rascheln des Laubes und dem Schnarchen des Stallknechts.

„Interessant.“, ließ sich Lathspell schließlich vernehmen. „Was ist aus dem Vrock geworden?“

„Der hat sich wohl einige Tage nach der Bestattung aus der Gegend verabschiedet. Soll das Scheißvieh woanders Leute umbringen. Wahrscheinlich ist das genau das, worauf der Graf insgeheim gehofft hat.“

„Möglich. Ich nehme an, du hast den Grafen magisch sondiert.“

„Das habe ich und auch wenn es nicht mein Spezialgebiet ist, würde ich sagen, dass ich gründlich war. Ich konnte keine Anzeichen eines Zaubers oder einer Verwünschung erkennen. Ich neige schon fast zu der Ansicht er habe über den Verlust seines Sohnes schlicht einen Teil seines Verstandes verloren. Aber wenn du nun schon einmal in der Nähe bist wäre es bestimmt nicht verkehrt, wenn du dich der Sache annimmst. Du kennst dich da besser aus als ich.“

„Ich danke für das Kompliment, aber du weißt, dass ich nicht umsonst arbeite. Und ich glaube nicht, dass du vor hast mich zu bezahlen.“

„Weshalb sollte ich?“ erwiderte der Zauberer. „Es ist ja nicht mein Problem. Wende dich an den Dupez, wenn du bezahlt werden willst.“

„Er schien mir nicht in der Verfassung zu sein darüber zu verhandeln.“, wandte Lathspell ein.

„Nein, nicht im Moment jedenfalls. Natürlich könntest du hoffen, dass er durch deine Behandlung genest und sich erkenntlich zeigt, aber das entspricht nicht gerade deiner Art.“

„Nicht wirklich. Für heute werde ich ohnehin nicht weiterziehen. Vielleicht ist der Graf morgen in besserer Verfassung.“

„Vielleicht“, sagte Kassbad zögernd, „Aber ich würde mich nicht darauf verlassen. Komm lass uns zur Küche gehen, ich spüre, dass ich Hunger bekomme und dass du zuletzt etwas Ordentliches gegessen hast, ist vermutlich auch schon eine ganze Weile her.“

Der Alte unterbrach sich in seiner Geschichte, um den Krug entgegen zu nehmen, den Tommin ihm reichte. Trotz des Protests der Kinder schnupperte er daran und nahm einen kräftigen Zug.

„Ahh, Bier, und nicht das schlechteste, das ich je getrunken habe. Habt Dank, junger Freund, mögen die Götter euch für eure Großzügigkeit entgelten. Oh, und sogar Gewürzgurken hast du mitgebracht. Das lob ich mir! Seht ihr Kinder? So bewirtet man einen Gast, anstatt ihn mit Gequengel und Gekreische zu belästigen. Jaja, ist ja schon gut, ich erzähle ja schon weiter.“

Der alte Geschichtenerzähler biss in die nach Senf und Dill schmeckende Gurke, spülte mit einem Schluck Bier nach und hob wieder an zu erzählen.

„Weißt du Diana“, sagte Lathspell während er die Stute einen mit Malven und Hartriegel bewachsenen Hang hinauf lenkte, „in einem Punkt hatte Kassbad recht. Es entspricht wirklich nicht meiner Art eine Arbeit zu erledigen und anschließend auf den guten Willen der Leute für die Bezahlung zu hoffen. Zu sehr neigen viele Menschen dann dazu den guten Willen zu vergessen, denn das Problem ist ja schon gelöst. Wozu also noch Geld ausgeben?

Warum ich es trotzdem tue? Nun, auch da hatte Kassbad recht: ich habe in der Tat schon einige Tage nichts anständiges mehr gegessen, die Küche des Grafen ist gut besetzt und die Strohsäcke weich. Wenn er sich stur stellt so haben wir uns wenigstens ein paar Tage gut erholt. Und wer weiß, vielleicht springt ja wirklich etwas für uns heraus.“

Langsam stieg die Stute den Hang weiter hinauf. In der hohen Sommersonne wisperten die Blätter und der ausgedörrte Boden staubte unter ihren Hufen.

„Es wundert mich aber doch“, hub Lathspell nach einer Weile wieder an, „was einen einzelnen Vrock hier her verschlagen hat. Für gewöhnlich jagen sie in kleinen Gruppen und nicht allein. Vielleicht ist er von seinem Zug getrennt worden, vielleicht ist er auch allein in unsere Welt geraten. Jedenfalls wollen wir sicher gehen, dass sich hier nicht noch mehr von ihnen herumtreiben, sonst haben wir bald mehr zu tun als uns lieb ist.“

Der Hügel wurde flacher und einzelne Felszacken stachen durch den Boden, wie von einem Riesen ausgestreute Kiesel. Der Boden wurde sandiger, karger und war mit reichlich Geröll und Schutt übersäht. Lathspell stieg ab und nahm sein Pferd am Zügel, führte es zwischen die von den Felsen geworfenen Schatten. Das Wechselspiel aus hellem Sonnenlicht und düsteren Schatten strengte die Augen an und erschwerte die Orientierung. Er schirmte die Augen ab und schaute sich eine Weile um, suchte nach den von Kassbad beschriebenen Felsen, die ihm die Richtung weisen sollten. Als er sie keine Meile weit entfernt erkannte, schnalzte er leicht mit der Zunge und tauchte zwischen die Felsen ein, die Stute weiter am Zügel führend.

Nach einigen Minuten in denen nur der Schlag der Hufe und das Schnauben die flirrende Stille störten, erreichten sie eine freie Fläche, die inmitten der Felsen, wie eine Lichtung im Wald wirkte. Lathspell hielt inne, schaute über das offene Feld und strich dem Pferd über die Nüstern.

„Warte hier“, sagte er, „Ich will mich ein wenig umsehen.“

Die Stute schaute ihn aus großen Augen an und begann im Schatten eines Granitblocks das dünne Gras ab zu knabbern. Mit ruhigen schritten durchmaß Lathspell den kleinen beinahe perfekt elliptischen Platz, hielt vereinzelt inne, um auf dem Boden etwas in Augenschein zu nehmen. Viel gab es nicht zu sehen, die Bediensteten des Grafen hatten so gut es ging aufgeräumt. Doch zeugten Spuren getrockneten Blutes von dem Kampf, der hier stattgefunden haben musste. Reichlich Spuren von Blut.

Mit der Hand fuhr Lathspell über den dunkel verkrusteten Boden, zog eine Furche, zerrieb etwas Sand zwischen den Fingern. Zwei gebeugte Schritte weiter hob er einen befleckten, kindskopfgroßen Steinbrocken auf und roch an ihm. Mit einem aus dem Stiefelschaft gezogenen Messer kratzte er an der Oberfläche, leckte die Klinge ab, runzelte die Stirn. Das Messer wanderte Zurück in den Stiefelschaft und aus einer Tasche am Gürtel entnahm er ein kleines Kästchen. Von dem darin befindlichen, grauen Pulver streute er ein wenig auf den blutigen Boden. Es zeigte keine sichtbare Reaktion.

Die Brauen gerunzelt richtete sich Lathspell auf und schaute sich noch mal auf der Felsenlichtung um. Die Sonne war weitergezogen, die Schatten auf dem Boden gewandert. In einigen der am Rand stehenden Steine zeigten sich tiefe Kratzspuren. Unschlüssig schüttelte er den Kopf und ging zurück zu seinem Pferd.

„Es handelt sich zweifelsfrei um einen Vrock“, sagte er leise zu seiner Stute, während er sie zwischen den Felsen hinausführte, „Es war Blut von einem von Ihnen da. Nach den Spuren, die die Klauen in den Felsen hinterlassen haben, ein ausgewachsenes Exemplar und keins von der kleinen Sorte. Wenn das Biest weitergeflogen ist soll es mir recht sein. In jedem Fall war es töricht von dem jungen Prinzen sich allein mit so etwas anlegen zu wollen. Aber irgendwas ist daran nicht schlüssig. Es erklärt nicht was mit Graf Dupez vor sich geht. Vrocks nehmen den Geist ihrer Opfer nicht in Mitleidenschaft. Sie sind gewöhnliche Raubtiere. Ich schätze wir werden uns den Grafen genauer in Augenschein nehmen müssen.“

Goidemar verstummte, zum sofortigen und lautstarken Missfallen der Kinder, nahm einen kräftigen Schluck und schaute in die Runde. Däumelinchen hatte es sich auf dem Schoß ihres Bruders gemütlich gemacht, die Augen halb geschlossen lehnte ihr Kopf an seiner Brust. Mit einem sanften Lächeln hielt dieser seine kleinste Schwester mit einem Arm und fuhr ihr mit dem anderen über den kastanienbraunen Schopf. Frai, die hübsche Müllerstochter, war verschwunden.

„Immer mit der Ruhe, ihr Rotznasen“, schimpfte der Alte. „Man wird doch mal noch ein wenig Luft holen dürfen. Wenn ihr nicht Ruhe gebt kann ich auch gleich aufhören.“

Augenblicks lies das Gezeter der Kinder nach, die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht.

„Na also“, grummelte Goidemar, „wo waren wir stehen geblieben? Ach, ja, beim Grafen…“

Lathspell stand in der dämmrigen Hitze des Stalls, einen Apfel in der offenen Hand. Diana streckte den Kopf danach aus und begann geräuschvoll darauf zu kauen. Saft spritzte und ein großes Stück des Apfels fiel auf die Spitze seines Stiefels. Sachte lächelnd hob er ihn auf, wischte Stroh und Dreck ab, hielt ihn ihr wieder hin. Dankbar nahm sie ihn entgegen und schnaubte leise. Einen Moment schaute er seiner Stute dabei zu, dann strich er ihr über die Nüstern, die Wangen, die Ohren.

Vor dem Stall, im hellen Licht des Hofes stand Kassbad und erwartet ihn.

„Wie geht es dem Grafen heute Morgen?“, erkundigte sich Lathspell.

„Besser,“ lautete die knappe Antwort. Schweigen.

„Ich habe seine Wunde versorgt, so gut ich es konnte und mit einer Nacht Schlaf sollte es ihm eigentlich besser gehen. Der Anfall scheint vorüber zu sein. Er wirkt wieder normal wie immer. So normal jemand eben wirken kann, der sich ein Auge ausgerissen hat.“

„Du sagtest, er habe es verbrannt?“

„Als Opfer für die Götter,“ bestätigte Kassbad, „Bei allen Ebenen Lathspell, was geht hier nur vor? Du musst doch eine Ahnung haben. Hast du gestern etwas herausgefunden? So kann es doch nicht weiter gehen. Was wenn dieser Wahnsinn beginnt um sich zu greifen?“

„Nicht viel“, antwortete Lathspell, „Cortao hat wirklich mit einem Vrock gekämpft, daran besteht kein Zweifel.“

Kassbad schnaubte verächtlich. „Und um das herauszufinden warst du den ganzen Tag unterwegs? Da hättest du auch jemanden aus Cortaos Gefolge fragen können, wenn denn noch einer da ist: große stinkende Flügel, ein Schnabel wie ein Geier, drei Krallen an jeder Klaue und einen Schrei, der einem das Blut erstarren lässt. Wonach klingt das für dich? Einem zu groß geratenen Huhn? Wahrlich wenig, wenn das alles ist. Ich dachte das sei dein Fachgebiet“

„Du urteilst vorschnell. Hast du den Ort des Geschehens gesehen?“

„Nein, aber ich habe Beschreibungen gehört. Eine freie Fläche inmitten steiler Felsen. Sonst wenig ungewöhnliches.“

„Dann hättest du vielleicht doch selbst einmal dort hingehen sollen.“, merkte Lathspell an, „Wachen und Bediensteten neigen dazu wesentliche Details nicht zu erwähnen. Die Fläche ist nicht nur frei sondern auch eben wie mit dem Senkblei geglättet und der Form nach eine nahezu perfekte Ellipse. Ein Baumeister hätte seine liebe Not mit so etwas.“

Kassbad schaute interessiert. „Hattest du Kryolith dabei?“

Nicken.

„Und?“

„Keinerlei Reaktion.“

Schweigen.

Es war Kassbad der als erstes wieder sprach „Das könnte in der Tat so manches erklären. Wo der Vrock hergekommen ist zum Beispiel. Und Lathspell, verkneif dir deine trockenen Anmerkungen aber Intersektionen reagieren sensibel auf die Energie von vergossenem Blut. Könnte das noch etwas anderes angelockt haben?“

„Möglich. Und je nach dem, könnte das auch erklären, was mit Graf Dupez vor sich geht. Ich müsste ihn mir noch mal ansehen.“

„Er ist zum Grab seines Sohnes gegangen. Nicht weit von hier, auf dem Friedhof der Familie.“

„Gut“, meinte Lathspell, „Dann wollen wir den Toten mal unsere Aufwartung machen.“

Der Friedhof lag etwas abseits der eigentlichen Burg. Von keiner sichtbaren Begrenzung umgeben ragten eine Reihe granitener Grabsteine aus dem Gras, auf das die Zweige einer ausladenden Eiche ihre kühlen Schatten warfen. Vor einem stand der Graf, gesenkten Hauptes, die Statur gebrochen, den Rücken gebeugt. Die prunkvolle Kleidung wirkte unordentlich und über den Hinterkopf zog sich wie frisch gefallener Schnee die Spur eines weißen Leinenverbandes. Als Lathspell mit dem Druiden näher trat wandte er sich um, tiefer Gram stand ihm ins Gesicht geschrieben und bleierne Trübsal umgab ihn wie eine düstere Wolke. Über das linke Auge zog sich der Verband und verbarg die leere Höhlung.

„Ah Kassbad“, sprach der Graf. Seine Stimme hatte den sonoren Klang eingebüßt, „Ist das der Dämonenjäger von dem man sich erzählt?“

„In der Tat, Graf“, bestätigte Kassbad, „sein Name ist Lathspell. Ich kenne ihn flüchtig, doch seine Fähigkeiten stehen außer Zweifel.“

„Dann seid gegrüßt in meiner Stadt, Lathspell. Ein Jammer, dass wir uns unter solch unerfreulichen Umständen kennen lernen. Man sagte mir ihr seid zum Todesort meines Sohnes gegangen?“

„Das bin ich,“ antwortete Lathspell mit einer leichten Neigung des Kopfes, „Ich wollte mir den Ort selbst einmal in Augenschein nehmen. Nach den Spuren zu schließen war es ein ungewöhnlich großer Vrock, der sich dort aufhielt. Euren Sohn gegen diesen zu senden, kam einem Todesurteil gleich.“

Ein düsterer Schatten flog über das Gesicht des Grafen, leise raschelnd zitterte das Laub der Eiche über ihm. Es überdeckte das dumpfe Geräusch mit dem der Druide Lathspell gegen den Knöchel trat.

„Dann ist es also wahr. Ich habe meinen Sohn ins Verderben gestürzt. Oh ihr Götter, ihr hattet recht!“ Der Graf sackte auf die Knie, schlug mit der Faust gegen den Stein. Die Knöchel rissen auf, Blut sickerte in einem dünnen Rinnsal hervor. „Ich bin schuld am Tod meines Kindes! Niemals werde ich mich davon reinwaschen können!“

Mit einem vorwurfsvollen Blick zu seinem Begleiter trat der Druide vor, half dem Knieenden wieder auf die Füße. Leise murmelte er einen Spruch. Lathspell spürte den leichten Hauch magischer Energie, die von den Worten ausging. Dem Kleiber, der die Rinde der Eiche nach Larven absuchte, lief ein Schauer durchs Gefieder. Er schüttelte sich, löste die Krallen aus der Rinde und flatterte hinauf zu den höher gelegenen Ästen.

Der Blick des Grafen klärte sich etwas. Kniend öffnete er die Faust, streckte und lockerte die verkrampften Finger. Einen Moment lag gemahnten sie an die Krallen eines Ungeheuers, lang, knochig und scharf. Mit Hilfe der angebotenen Hand des Druiden stand er auf, strich sich das Haar aus der Stirn, klopfte Staub von Hosen und Obergewand.

„Ich fürchte ich habe keinen besonders guten Eindruck auf euch gemacht“, sprach Graf Dupez mit seiner gewohnt sonoren Stimme. „Für gewöhnlich achte ich mehr auf mein Auftreten. Doch seit dem Tod meines Sohnes, seit die Götter zu mir sprechen, ist vieles anders. Der Gram lastet schwer auf mir, ich bin mir selbst bisweilen schon fremd.“

„Es gibt nichts, wofür ihr euch mir gegenüber schämen oder entschuldigen müsstet. Glaubt mir“, sagte Lathspell ruhig, „Ich habe genügend Menschen in schlimmeren Zuständen gesehen. Doch erlaubt ihr eine Frage, Graf Dupez?“

„Sicherlich, fragt frei heraus.“

Lathspell nickte zum Zeichen des Dankes. „Die Götter, die zu euch sprechen, tun sie dies erst seit dem Tod eures Sohnes?“

„Das erste Mal hörte ich ihre Stimmen bei der Begräbnisfeier. Seitdem höre ich sie immer wieder und immer öfter.“

„Und was sagen sie?“

Der Graf stand einen Moment unbewegt bevor er antwortete: „Sie sprechen von Cortao. Sie sprechen von meiner Schuld an seinem Tod, dem Leid, dass er wegen mir erlitt. Ich habe versucht mich dem zu versperren, doch die Stimmen wurden immer lauter und immer mehr. Nur ein Zeichen der Sühne konnte sie zufrieden stellen. Ihr seid kein geistlicher, das ist offensichtlich, doch wenn ihr es vermögt, sagt mir: was bedeutet das?“

Lathspell zögerte einen winzigen Moment: „Der Tod ist eine mächtige Kraft. Manche die sterben sind nicht bereit ihr Schicksal zu akzeptieren und diese Welt zu verlassen, sie bleiben dann als Erscheinungen zurück. Viele von ihnen suchen die Orte ihres Todes heim und greifen neidisch alles Leben an, was sie dort antreffen. Manche von ihnen heften sich jedoch aus Rachedurst an diejenigen, die sie zum Tode verdammt haben.“

Dupez erbleichte. „Dann ist es wirklich meine Schuld? Als ich Cortao aufforderte den Vrock zu erlegen verdammte ich ihn zu Tode. Und nicht nur das, sein Geist wurde hier gefangen und plagt mich. Große Götter, in welche Schuld habt ihr mich verstrickt.“

Die Miene des Dämonenjägers war unergründlich. „Das wäre möglich.“

Schweigen legte sich für einen Moment über den Friedhof, durchbrochen nur von den Rufen des Kleibers. Kassbad schaute in die Wipfel hinauf, stieß seinen Stab auf. Einige Augenblicke später landete der Kleiber auf dessen knorriger Spitze und musterte die Menschen aus dunklen Augen.

Schließlich brach Graf Dupez das Schweigen.

„Kassbad behauptete mir gegenüber ihr seid ein Dämonenjäger. Einer der gegen Geld böse Geister vertreibt und kompetent obendrein. Sagt mir offen heraus, gibt es eine Möglichkeit den Geist meines Sohnes zu befrieden? Nicht nur um meinetwillen, auch für Cortao. Seid euch gewiss, dass ich meiner Dankbarkeit angemessenen Ausdruck verleihen werde.“

„Ich kann es versuchen“, sprach Lathspell langsam, „Aber ich kann nichts versprechen. Eine gewöhnliche Erscheinung kann man jagen, Rachegeister hingegen sind selten und kein Fall gleicht dem anderen. Es bedarf einer gewissen Vorbereitung und eurer Mitarbeit. Doch ist das Unterfangen in jedem Falle heikel.“

„Was meint ihr damit?“

Keine Regung lag in Feaharns Zügen. „Es könnte sein, dass ihr zu Schaden kommt. Je stärker der Geist auf euch fixiert ist, desto schwerer wird er von euch lassen. Es könnte zu Komplikationen kommen, die Folgen lassen sich nicht abschätzen.“

Still standen sie da. Ein zufälliger Passant, der auf dem Weg den Berg hinauf am Friedhof vorbeigekommen wäre, hätte sie auch für Statuen halten können. Wiederum war es der Graf, der das Schweigen brach.

„Dann werdet Ihr tun was ihr könnt und nötigenfalls auch, das was ihr müsst. Es ist schwer zu benennen, doch Ihr erweckt Vertrauen Lathspell. Wenn es Cortao Frieden verschaffen kann, nehme ich das Risiko auf mich. Trefft alle Vorbereitungen die zu treffen sind. Ich ziehe mich zurück, die Sonne blendet mich und bereitet mir Kopfschmerzen.“

Mit einem Ausdruck des Bedauerns auf dem faltigen Gesicht nahm Goidemar den letzten Schluck des Bieres. Auch die eingelegten Gurken waren aufgegessen. Einen Moment sann er seinen Gedanken nach, doch das Bitten und Betteln der Kinder holte ihn alsbald wieder auf die Veranda des Metzgers von Rinsten.

In den Gesichtern der Kinder stand Spannung geschrieben. Die Geschichte fand Anklang. Däumelinchen schlief friedlich in den Armen ihres Bruders, andere Kinder waren bereits von Ihren Eltern geholt und in die Betten der heimischen Hütten gebracht worden. Die Müllerstochter war wieder da. Selig lächelnd lehnte sie an einem pickeligen Burschen mit einem Schopf wie frischer Flachs, er schaute zu ihr und klaubte einen Strohhalm aus einem Zopf. Ein wehmütiges Lächeln flog über das Gesicht des alten Landstreichers. Erinnerung an warme Sommernächte und heiß glühende Sterne hielten ihn für einen Moment gefangen. Doch das war lange her. Das quengeln der Kinder riss ihn wieder aus seinen Gedanken.

„Wollt ihr Rotznasen wohl ruhig sein? Muss ich immer erst schreien, dass ihr Ruhe gebt? Zu meiner Zeit hätte es das nicht gegeben, da hätte man euch eins mit dem Riemen gegeben, wir wussten uns noch zu benehmen. Aber was solls, euch würde wahrscheinlich nicht mal das Anstand beibringen. Aber das tut nichts zur Sache, ich erzähle euch die Geschichte zu Ende…“

„Sag mal Lathspell, ich will mich ja nicht einmischen, immerhin bist du der Experte und nicht ich, aber seit wann betreibst du einen solchen Aufwand für eine gewöhnliche Erscheinung? Genügen dafür nicht eine versilberte Waffe und notfalls ein einfacher Spruch?“

Mit einer ausladenden Geste wies er auf die elliptische Ebene zwischen den gezackten Felsen. Auf dieser hatte der Dämonenjäger Spuren in Kies und Erde gescharrt sodass diese einen ausladenden Drudenfuß bildeten. Als der Druide eine halbe Stunde vor Einbruch der Dämmerung das kleine Hochplateau erreichte war er gerade damit beschäftigt beim Schein eines kleinen Feuers in einem Mörser Schwefel, Salpeter, Kohle und ein dem Druiden unbekanntes silbrig-weißes Metall zu zerkleinern und in sich zu einem engen Hals verjüngende, kegelförmige Tongefäße zu füllen. Neben ihm lag sein langes Schwert in der in Leder gefassten Scheide.

Der Jäger schaute nicht auf. „Doch, durchaus.“

„Gesprächig bist du ja mal wieder nicht, was? Na, ich wills dir mal nicht krummnehmen. Ich meine ich habe ja selbst Augen im Kopf und kann zwei und zwei zusammenzählen. Du magst vorsichtig sein, aber auch du scheißt kein Gold. Und Schwefel und Salpeter sind sicherlich nicht günstig. Je nach dem wo du es gekauft hast ist das, was du da zusammenmischt, gut und gerne 100 Kronen wert, 120 wenn du an den falschen Händler geraten bist. Diese Halsabschneider von Alchemisten werden auch immer gieriger. Und sie sollen mir nichts von Unruhen und Überfällen erzählen, als ob das nicht schon immer gewesen wäre. Und selbst wenn die Lage geklärt würde, sie würden ja wohl kaum mit den Preisen wieder runter gehen. Naja.“

Interessiert betrachtete der Druide wie Lathspell die gefüllten Tongefäße beiseitestellte und aus einer Tasche einige Kräuter herausnahm.

„Salbei, Engelswurz, Rosmarin, Johanniskraut… Lathspell, mit dem was du da auspackst könnte so mancher Apotheker seine Auslage füllen. Aber du bist ja kein Apotheker.“

Wieder schaute Lathspell nicht auf. „Nein, das bin ich nicht.“

„Mach dich nicht lustig über mich, Lathspell.“ Kassbad verzog das Gesicht. „Ich weiß ja durchaus was dein Geschäft ist. Und auch wozu man das benutzt, was du da gerade auspackst. Ganz dumm bin ich auch nicht. Das ist keine gewöhnliche Erscheinung, was Dupez heimgesucht hat, nicht wahr?“

Nun schaute Lathspell auf. „Nein, ist es nicht.“

Schweigen legte sich für einen Moment über das Plateau. Es war Kassbad, der es brach: „Was ist es dann?“

Das Messer mit dem Lathspell gerade Rosmarin und Salbei zerkleinerte hielt inne. „Benutz deine zwei Augen und zähle zwei und zwei zusammen. Das kannst du doch. Ich kann es dir nicht sagen, nicht im Moment, das könnte gefährlich sein. Für dich, für mich und auch für Dupez.“

Schweigend nickte Kassbad. Ruhig fragte er: „Und gehe ich recht in der Annahme, dass die Kräuter, die du da vorbereitest, für ein Räucherwerk gedacht sind?“

„Tust du.“, nickte Lathspell.

„Und als du den Graf konfrontiertest, war das ein Test?“

Wieder ein nicken.

„Verstehe. Ich fürchte, dich nicht schon früher gerufen zu haben ist der größte Fehler in diesem unerfreulichen Schlamassel. Wärst du früher da gewesen, hätte das einiges an Ärger erspart. Anstelle des Prinzen wäre das Mistvieh tot und ich könnte jetzt gemütlich bei mir zuhause sitzen und eine Pfeife rauchen. Aber klagen hat keinen Zweck. Die Dinge haben sich einmal so entwickelt wie sie haben, wir können nur versuchen das Durcheinander wieder zu ordnen. Oder wohl eher du wirst es versuchen. Ich denke nicht, dass ich dir dabei von großem Nutzen sein kann?“

Ein kurzes Zögern des Jägers. „Wenn ich mich nicht täusche und deine Fähigkeit zwei und zwei zusammen zu zählen dich nicht im Stich lässt, ist die Angelegenheit gefährlich, höchst gefährlich. Schwer zu sagen, was in einer Stunde sein wird.“

Er hielt einen Moment inne, mit einer kurzen Handbewegung beschwor er eine Reihe leuchtender Kugeln, die wie Glühwürmchen in der zunehmenden Finsternis der Nacht hingen. In ihrem fahlen Schein wirkte sein Gesicht wie ein steinernes Relief. So regungslos wie immer fuhr er fort: „Ich kenne die Risiken meines Berufs, ich habe sie akzeptiert, aber ich will niemanden da mithinein ziehen. Ich kann weder dich noch den Grafen schützen. Wenn ich meinen Fokus verliere würde das den Tod für mich und euch beide bedeuten. Oder auch schlimmeres. Also wenn die Sache heiß wird, bleib aus dem Schussfeld.  Und nimm seine Erlauchtheit mit.“

Kassbad nickte langsam. „Wie immer hältst du dich nicht mit unnötigen Worten auf. Ich werde auf den Grafen achten, wenn du dich mit was auch immer in Dupez steckt herumschlägst. Ich kann beim besten Willen nicht behaupten sonderlich erpicht gewesen zu sein mich da einzumischen. Auch wenn mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken ist, dass du dich allein damit anlegen willst. Und wenn wir schon von ihm reden, dort kommt er auch schon.“

Aus der Finsternis war der Graf getreten, ein schlichter Umhang über den Schultern. Das weiß der Leinenverbände über der leeren Höhlung glomm gespenstisch im Schein der Irrlichter. Der Rest des Gesichts versank in den Schatten der Kapuze.

„Graf Dupez“, Kassbad neigte den Kopf, „Ihr kommt gerade zur rechten Zeit.“ Mit einem Blick auf Lathspell, der mit einer eisernen Schaufel das heruntergebrannte Feuer auseinander störte, die glimmenden Kohlen in den Armen des Drudenfußes verteilte, je einen tönernen Kegel auf seine Schnittpunkte stellte. „Die Vorbereitungen sind so gut wie abgeschlossen.“

Skeptisch musterte der Graf die Linien auf dem Boden. „Ihr meint diesen Hokuspokus? Das hätte ich mir auch auf den Fußboden meines Gemachs malen können, ohne dafür hier herauf klettern zu müssen. Das soll mir helfen?“

„Ja, soll es.“ Feaharns Stimme zeigte keine Spur von Verärgerung. „Bitte Graf Dupez, legt euren Mantel ab und folgt mir. Es wird Zeit euch und Cortao zu erlösen.“

Bei der Erwähnung seines Sohnes zuckte Dupez zusammen. Die Schatten auf seinem Gesicht flohen, als er die Kapuze und den Umhang abstreifte. Nur in den Falten seines Gesichts krallten sie sich fest. Der Stoff raschelte leise auf dem Boden und der Sand knirschte als Dupez vortrat. Es war nur ein geringes Geräusch, doch Lathspell entging es nicht. Die Stimme des Grafen hatte etwas von ihrem ruhigen, sonoren Klang zurückerhalten, als er wieder sprach:

„Ich sagte es schon einmal: Ihr seid ein Mann, der Vertrauen erweckt, Lathspell. Was soll ich also tun?“

Im magischen Licht wirkte er wie nicht von dieser Welt. Das Gesicht war hager, die Schultern gekrümmt, die Knie spitz, die Hände wie Klauen, bleich wie die nackten Knochen auf einem vergessenen Schlachtfeld. Mit einem kaum merklichen Blick zu Kassbad deutete Lathspell in die Mitte des Sterns.

„Kommt zu mir, bitte.“

Noch einmal schaute Dupez da Toldaro, Graf von Atola, Vater eines getöteten Sohnes skeptisch auf den Stern auf dem Boden. Als er vortrat streute Kassbad die Kräuter nach und nach auf die Kohlen. Rauch wallte auf und erfüllte die Luft mit einem würzigen und anheimelnden Duft. Lathspell legte die Hand auf die Schulter des Grafen. Dieser zuckte und sträubte sich, doch die Hand hielt ihn fester als die Wurzeln eines alten Baumes. Der Blick der grauen Augen bohrte sich in die des Grafen als er sprach:

„Warum seid Ihr hier?“

„Ihr rieft mich hierher.“ Die Stimme des Grafen klang hohl, die Anspannung kämpfte mit den Schatten auf seinem Gesicht.

„Warum seid Ihr gekommen?“ Auch die Stimme des Jägers hatte sich verändert, sie war hart, metallisch, schnitt durch die Luft und drang in die Haut der Anwesenden.

„Um… meines Sohnes willen.“ Jeder Satz verlangte dem Grafen sichtliche Anstrengung ab. Die Lichter hatten begonnen um die beiden Männer zu kreisen und zu wirbeln und schufen mit dem Rauch des Räucherwerks grotesk tanzende Spiele aus Schatten und Zwielicht. „Um… meine Schuld… zu sühnen.“

„Erklärt Euch! Seid Ihr Graf Dupez da Toldaro?“

Die Lichter wirbelten schneller, strudelten durch den Rauch, verdichteten die Schatten. Der Blick des verbleibenden Auges verschleierte sich, die Lippen regten sich, doch schien die Stimme aus dem Boden zu dringen: „Nein.“

Ein Schlag traf Lathspell vor die Brust, riss ihn von den Füßen, schleuderte ihn mehrere Meter durch die Luft. Dumpf schlug er auf dem Boden auf, die Luft wich aus seinen Lungen. Die Irrlichter flammten in einem gleißenden Blitz auf und verloschen. Dunkelheit breitete sich aus, nur die Kohlen glommen und färbten den Rauch orange. Im Rauch bewegte sich eine Gestalt.

Lathspell schüttelte den Kopf, um das dumpfe Gefühl aus seinem Schädel zu vertreiben. Er streckte die geöffnete Rechte zur Seite und aus den Schatten flog das Heft seines langen Schwertes, die Silberne Klinge schnitt Strudel in den Dunst. Den Griff packend sprang er auf die Füße, trat einen Schritt auf die Gestalt zu. „Graf?“

Im schwachen Licht waren ihre Bewegungen kaum aus zu machen, doch das geübte des Jägers erkannte, dass sie sich umwandte. Der Graf war selbst von einer durchaus beeindruckenden Größe, doch war der Umriss bedeutend größer, größer als ein lebender Mensch.

„Verdammt“, knurrte Lathspell. Schnell wie der Wind im Gras sprang er zur Seite, rollte über eine Schulter, kam wieder auf die Füße. Wo er eben noch gestanden hatte zischten lange Klauen durch die Luft. Mit einem weiteren schnellen Schritt zur Seite stand er vor dem Körper des Grafen auf dem Boden, das Schwert zu einer Parade erhoben.

Wieder wallte das Zwielicht auf und ein Schatten sprang daraus hervor, dem Jäger entgegen. Instinktiv formte dieser mit der Linken das Zeichen des Schildes. Gerade rechtzeitig, denn schon prallte die Finsternis mit solcher Wucht gegen ein unsichtbares Hindernis, dass der Jäger einen halben Schritt über den Boden zurückgeschoben wurde. Mit einer schnellen Halbdrehung hielt er das Gleichgewicht, starrte in den Rauch und die Dunkelheit.

Aus dem Augenwinkel gewahrte er die Gestalt des Druiden. Ein Flirren umgab ihn und er hatte den Grafen am Saum seines Rockes gepackt. Seinen Stab umklammerte er so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Mit sichtlicher Anstrengung zerrte er den schlaffen Körper rückwärts aus dem Rauch.

Feaharns Aufmerksamkeit richtete sich wieder voll nach vorne. Er flüsterte undeutliche Worte, legt die Fingerkuppen der linken Hand zusammen. An ihren Spitzen formten sich kleine glühende Funken. Als die Schatten sich wieder zusammenzogen stieß er ein bellendes Wort aus und spreizte die Finger. Die Funken stoben davon und einen Augenblick später entflammten mit einem Fauchen fünf gleißende, blutrote Lichter.

Das Licht durchdrang die Dunkelheit und entriss die schattenhafte Kreatur dem Nebel der Finsternis: Sie war über zwei Schritt hoch und von annähernd menschenähnlicher Gestalt, doch bestand sich nicht aus Fleisch, sondern strudelnder Dunkelheit. Die dürren Arme reichten bis über die Hüften und endeten in vier über eine Spanne langen Klauen. Im Gesicht glommen zwei dunkelrote Augen und darüber erhoben sich wie eine Krone aus Schatten zahlreiche Dornen oder Hörner.

Völlig ansatzlos, ohne dass eine Änderung der Haltung es verraten hätte sprang die Kreatur vor, die Krallen nach dem Menschen ausgestreckt. Lathspell duckte sich darunter weg, wich nach links hin aus, deckte sich mit einem Wirbel des Schwertes. Die Kreatur setzte nach, sprang erneut vor und hieb nach ihm. Wieder wich er aus und die Klauen fuhren so dicht vor seinem Gesicht vorbei, dass sie einige der umherfliegenden Haare zerschnitten.

Lathspell bewegte sich weiter nach links, die Kreatur im Blick, mit ungleichmäßigen Schritten, um ihr kein Muster für einen Angriff zu bieten. Der nächste Angriff kam und Lathspell parierte ihn durch ein schnelle Drehung des Handgelenks mit der flachen Seite der Klinge, doch der erwartete Aufprall bliebt aus. Stattdessen fühlte es sich an, als wäre ein Schwall Wasser oder Öl auf das Schwert getroffen und die Klauen glitten durch die Klinge hindurch, trafen den Jäger und zerschnitten das verstärkte Wams und die Haut darunter. Blut spritzte auf den Erdboden.

Lathspell knurrte wütend und stieß einige Silben aus. Sogleich materialisierten sich mehrere identische Gestalten seiner selbst, mit gezogenen Schwertern und blutgetränktem Oberkleid. Sie bewegten sich in einer Einheit mit ihm und umzingelten das Schattenwesen im durchdringenden Schein der Lichter. Wie bei einem Tanz umkreisten sie das Monster, das nach einer der Gestalten schlug, doch fuhren die Krallen durch die Luft ohne Schaden an zu richten.

Ein Brüllen, das aus den tiefsten Tiefen der Erde zu dringen scheinen, erschütterte die Berge im Umkreis. Lathspell spürte die Vibration des Bodens durch seine Stiefel. Er spannte seine Muskeln an und ging zum Angriff über. Mit zwei Schritten verkürzte er die Distanz, führte einen Hieb, den die Spiegelbilder perfekt imitierten. Der Schatten wich zurück hieb ziellos nach einem der Bilder, welches zerriss und sich auflöste. Um seinem Gegner keine Zeit zu lassen sich zu sammeln setzte Lathspell nach, vollführte einen Ausfallschritt und einen Stich. Die Spitze der Silbernen Klinge traf dort, wo bei einem Menschen die Hüfte gewesen wäre, drang ein wie in zähen Honig, um die Schneide flackerte es rot.

Wieder rollte der Schrei über die Berge, traf den Menschen vor die Brust und riss ihn von den Füßen, schleuderte ihn bis an den Rand des Lichtkreises. Das Schwert noch in der Hand versuchte Lathspell den Sturz abzufangen und zerschlug dabei mit der Schwertklinge das fauchende und grell leuchtende Tongefäß. Eine gewaltige Lichtsäule fauchte empor, als sein Inhalt sich vollständig und schlagartig verzehrte. Das Kreischen wie von berstendem Eisen verstummte, hörte auf die Trommelfelle zu zerreißen und den Geist zu lähmen. Das Licht verlosch und hinterließ eine Schneise im leuchtenden Ring.

Als die Kreatur Anstalten machte sich zu regen, sandte Lathspell ihr einen Strom goldener Flammen aus seinen Fingerspitzen entgegen. Sie zuckte zurück, wich dem hellen, heißen Strom aus. Sie züngelten nur einen Moment, doch reichte dieser, um wieder auf die Füße zu kommen. Das Schwert zur Parade erhoben, blitzte im grellen Licht der Tongefäße, an der Spitze klebte Schwarz und dick, das Blut der Kreatur.

„Na los, bringen wir es zu Ende“, knurrte Lathspell.

Er war sich nicht sicher, ob seine Worte verstanden wurden noch ob sie zu hören waren. Vorsichtig und lauernd umkreisten sich die Gegner, immer ein Schritt zur linken den Mittelpunkt des Sterns zwischen ihnen. Feaharns Hände packten das Heft fester, leise knirschte das Leder der Handschuhe. Noch drei Schritte, noch zwei, noch einer.

Die Bestie bewegte sich, so unvermittelt wie die ganze Zeit, überbrückte den Raum zwischen ihnen und schlug zu. Lathspell entging dem Hieb, vollführte eine Halbdrehung, schlug eine weit ausholende Mühle. An ihrem Ende berührte die Schwertspitze einen der gleißenden Lichtkegel. Der Jäger schloss die Augen und sprach das Wort des Bindens.

Die Lichter flammten auf, so grell war ihre Helligkeit, dass es durch die geschlossenen Augen schien als sei es hellichter Tag. Und in diesem Schein zeichnete sich durch die Augenlieder ein dunkler Schatten ab, geschockt und starr, geblendet vom Licht. Jeder der nun folgenden Bewegungen lief automatisch, wie die einstudierten Schritte des Gesellschaftstanzes bei Hof, mit geschlossenen Augen so sicher und unabwendbar als wäre es eine Übungsstunde und kein Kampf auf Leben und Tod: Drei kraftvolle Schritte, die Drehung des Oberkörpers, der Absprung mit dem rechten, der schräg geführte Schlag, die Landung auf dem linken Fuß und die anschließende Halbwendung.

Das Licht verlosch und die Dunkelheit nahm den Berggipfel wieder ein. Einen Moment verharrte Lathspell noch regungslos. Dann, als ob der entfernte Schrei einer aufgebrachten Eule das erwartete Zeichen gewesen wäre, ließ Lathspell das Schwert sinken.

Goidemar war zu Ende gekommen. Die Kinder schauten mit großen Augen zu ihm auf. Dahinter standen einige der Eltern. Auch sie hatten schweigend dem Ende der Geschichte gelauscht. Schließlich regte sich der Sohn des Schmieds:
„Was war es denn nun, das Lathspell bekämpfte? Und hat er es erschlagen?“

„Es war ein Eyrin, ein Dämon aus einer anderen Ebene.“, sprach Goidemar. „Sie suchen unsere Sphären heim und hängen sich and Menschen, die Schlimmes getan haben. Von ihrer Schuld, ihrem Schmerz und ihrer Trauer nähren sie sich. Der Dämon schürt diese Gefühle, bis sein Wirt schließlich den Verstand verliert. Zum Glück des Grafen konnte er ihn rechtzeitig erkennen und vernichten. Doch es ist spät. Ihr Kinder gehört ins Bett, eure Eltern warten schon auf euch und auch ich sehne mich nach Schlaf.“

Die Kinder protestierten doch verstanden ihre Eltern nur zu gut den Sturm der Entrüstung zu bändigen. Die Versammlung löste sich auf.

Tommin, seine Schwester Däumelinchen auf dem Arm, trat zu Goidemar: „Kommt Alter, ihr könnt in der Scheune im Stroh übernachten. Folgt mir.“

Der Alter brummelte etwas zustimmendes und folgte dem Jungen durch das zunehmend ruhigere Dorf. Ihr Ziel lag etwa fünfzig Schritte abseits des Dorfes: eine kleine Hütte inmitten bestellter Felder mit einem Stall und einem Heuschober. An der Tür des Schobers hielt Tommin noch einmal inne.

„Väterchen, was wurde aus Lathspell und dem Grafen?“

„Nun“, herzhaft und unverhohlen gähnte er, „Der Graf erholte sich. Es dauerte etwas, doch schließlich konnte er sich seinen Fehler vergeben. Er starb friedlich und in hohem Alter. Und Lathspell“, er hielt inne, lies seinen Blick über die Dunkle Landschaft streichen, „Er wurde für seine Dienste entlohnt. Doch schon am nächsten Morgen in aller Frühe brach er wieder auf hin zu neuen Menschen und neuen Abenteuern. Denn das ist das Schicksal derer, die Wandern.“

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