Tahwyn Folkor

Tahwyn FolkorMein Name ist Tahwyn. Tahwyn Folkor.

Ich wuchs in einem kleinen, bescheidenen Dorf auf. Bis zu meinem 30. Lebensjahr verlief mein Leben sehr gewöhnlich. Mein Vater war der HĂ€uptling unseres Dorfes. Ein lustiger Geselle, dem nur wir, seine Familie, wichtiger waren als das gemĂŒtliche und sorgenfreie Zusammenleben in unserem Dorf. Ich wuchs auf, spielte in den durch Schatten verborgenen Winkeln unseres Waldes, lauschte den Heldensagen unserer DorfĂ€ltesten und verbrachte meine freien Stunden hauptsĂ€chlich damit, dem komischen Kauz, der im Bau neben uns wohnte zusammen mit meinem Bruder Streiche zu spielen. HĂ€tte ich es damals schon ahnen können? Vielleicht. Aber wer vermutet schon, dass soetwas geschehen könnte. Noch dazu in der eigenen Familie.

 

Alles fing an einem ganz gewöhnlichen Sommerabend an. Ich saß mit meiner Mutter vor unserem Bau, gerade damit beschĂ€ftigt, unsere VorrĂ€te fĂŒr den Winter durchzugehen und zu ĂŒberlegen, wie wir wohl den alten Glaend dazu ĂŒberreden könnten, uns ein paar seiner Kartentricks beizubringen, damit die Herren unserer Familie den Winter ĂŒber etwas zum GrĂŒbeln hĂ€tten. Kurzum, ein Abend wie jeder andere. Plötzlich hörten wir laute GerĂ€usche und GelĂ€chter vom anderen Ende des Dorfes, wir konnten nur annehmen, dass grade mal wieder ein unbedarfter JĂŒngling in eine Falle seiner Ă€lteren Geschwister getappt war, und wollten uns den Spaß mit eigenen Augen ansehen. Wir Gnome lieben Streiche ĂŒber alles, muss man wissen. Wir meinen sie jedoch selten böse, es geht uns eher darum, unser Talent fĂŒr das Planen subtiler Fallen und geschickter Illusionen zu beweisen. Von daher ist es keine Schande, wenn man bei uns in eine gut geplante Falle stolpert, viel mehr ein Kompliment an den Fallensteller. Also machten wir uns auf den Weg und fanden alsbald den Grund fĂŒr den Tumult. Am Boden lag mein sieben Winter Ă€lterer Bruder, eingeschlungen in ein aus Pflanzenfasern geknĂŒpftes Netz, das offensichtlich durch eine Trittfalle dazu veranlasst wurde, auf den UnglĂŒcklichen hinunter zu fallen. Der Anblick war wahrhaft herrlich und die Falle gut gebaut. Ein MeisterstĂŒck war sie jedoch nicht. Diesen einfachen Auslösemechanismus lernen bei uns schon die ganz kleinen. Auf Grund dieser Tatsache, die natĂŒrlich allgemein bekannt ist, hat mein Bruder sich verstĂ€ndlicher Weise doppelt geschĂ€mt, den relativ auffĂ€lligen Stolperdraht am Boden, der zwischen zwei BĂŒschen aufgespannt war, nicht bemerkt zu haben. Verschlimmert wurde dieser Umstand nurnoch durch den kleinen, nicht einmal 12 Winter alten Ludoc, der, ganz entzĂŒckt ĂŒber den Ausgang der Geschichte, von einem Bein aufs andere hĂŒpfend vor dem versammelten Dorf herum tanzte. FĂŒr ein paar Minuten herrschte heiteres GelĂ€chter, wĂ€hrend mein Bruder sich mĂŒhsam aus dem Netz zu befreien versuchte. Bald schon kamen ihm einige seiner Freunde zu Hilfe und gemeinsam gelang es ihnen dann endlich, den Pechvogel wieder frei zu bekommen. WĂ€hrenddessen wurde Ludoc herzlich beglĂŒckwĂŒnscht. Normaler Weise, wĂ€re es ĂŒblich gewesen, dass der Gefoppte selbst dem Fallensteller ein Kompliment ausspricht und alle sich bei einem Becher Apfelwein wieder vertragen wĂŒrden. Mein Bruder jedoch fing zornig an, das Netz, dessen Herstellung mindestens zwei Tage mĂŒhsame Arbeit verschlungen haben musste, zu zerreißen und verschwand wenig spĂ€ter fluchend und schimpfend in unserem Bau, um seinen verletzten Stolz zu verbergen.

In den nĂ€chsten Monaten fielen mir immer wieder Ă€hnliche Dinge an meinem Bruder auf. Mal war er stundenlang wĂŒtend, weil das Essen nicht ganz nach seinem Geschmack gewĂŒrzt war, dann wieder waren es das Wetter, oder das laute Spielen der Kinder kurz nach Sonnenaufgang, selbst das Gezwitscher der Vögel vermochte einen kleinen Wutanfall auszulösen. Meinem Vater fielen die VerĂ€nderungen in dem Verhalten meines Bruders natĂŒrlich auch auf und so versuchte er ihn zu besĂ€nftigen und den Grund fĂŒr seine Angespanntheit heraus zu finden. Leider fielen seine Versuche nicht auf fruchtbaren Boden, es schien sogar so, als ob mein Bruder immer nur noch wĂŒtender werden wĂŒrde. Je mehr wir versuchten, ihn zu verstehen, desto mehr zog er sich in sich selbst zurĂŒck und war bald nur noch sehr selten außerhalb seines eigenen Baus zu sehen.

Der Winter verlief weitestgehend ereignislos. Zu der Zeit, als die Tage schon wieder lĂ€nger wurden geschah dann eines Morgens das Schreckliche. Ich wurde von den Klagerufen meiner Mutter geweckt. Mein Vater lag in seinem Nest aus BlĂ€ttern, erstochen. HinterrĂŒcks. Im Schlaf. Von dem Mörder keine Spur.  Die ersten Wochen nach dieser Tragödie herrschte großer Aufruhr im Dorf. Ein Mord. Soetwas hatte es noch nie gegeben. Wir waren uns alle sehr schnell einig, dass es niemand aus unserem Dorf gewesen sein könnte, dieser Gedanke war viel zu absurd. Nein, es musste ein Eindringling von außen sein.

Mein Bruder wurde schon bald von unseren Ältesten als der Nachfolger meines Vaters bestimmt. Meine Mutter versank in ihrem Kummer. Man sah sie kaum noch im Dorf. Alles schien auseinander zu fallen. Ich zog mich selbst immer öfter in die Einsamkeit zurĂŒck. Die Stille der BĂ€ume, die klaren Tiefen der Seen, die rauen AbhĂ€nge der wenigen Felsen, die hier und dort das BlĂ€tterdach durchbrechen und die UnerschĂŒtterlichkeit des gesamten Waldes und seiner Bewohner halfen mir, dem Schmerz zu entfliehen, der sich tief in meiner Brust festgesetzt zu haben schien. Nach einer Weile war ich wieder öfter im Dorf zu sehen. Das Leben ging weiter. Es war ein fremdes Leben geworden. Wenn man jetzt auf den Dorfplatz trat, sah man immernoch ab und zu spielende Kinder, ihr Lachen schien jedoch nicht mehr so ausgelassen und unbeschwert wie frĂŒher. Ein Schatten war ĂŒber unsere Gemeinschaft gefallen. Die Ältesten erzĂ€hlten Geschichten wie eh und je, doch die Geschichten hatten sich verĂ€ndert. Sie sprachen nun öfter von Missgunst, Verrat und dunklen Ahnungen.

 

Die Jahre vergingen und ich wurde erwachsen. Nicht, dass ich es bemerkt hĂ€tte. Neben dem Schmerz, der mein Leben ĂŒberschattete wuchs noch etwas anderes heran. Etwas, dem ich nie Bedeutung zugemessen habe. Ich dachte mir, dass die Geschichten sich in mir eingenistet haben mussten, so wie in jedem anderen. Wir hatten uns verĂ€ndert. Nachts gingen nun regelmĂ€ĂŸig Wachen durch das Dorf. Wir verschlossen die EingĂ€nge zu unseren Bauten, oft sah man kleinere GrĂŒppchen hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Seit diesen Tagen trug ich stets ein kleines Wurfmesser bei mir. Wir fingen an, unsere BesitztĂŒmer zu horten. An einigen Felsen in der NĂ€he wurde vor einigen Jahren ein wertvolles Metall gefunden. Mein Bruder ließ einige unserer MĂ€nner in das nĂ€chstgelegene Menschendorf reisen, um ihnen einen Tauschhandel anzubieten. Bald entstanden feste Handelsbeziehungen und ein Großteil von uns fing an, im Steinbruch zu arbeiten. Man muss verstehen, dass wir Gnome zwar ein gewisses Interesse fĂŒr fein gearbeiteten Schmuck und schöne Kristalle hegen, es unserer Natur aber sehr fremd ist, aus solchen GegenstĂ€nden Profit zu schlagen. Die wenigen Kostbarkeiten, die wir besitzen, werden ĂŒblicher Weise von Mutter zu Tochter weitergegeben. Von daher wunderte ich mich zunĂ€chst sehr ĂŒber diese Entwicklung. Aber ich gewöhnte mich daran und bald schon fand ich die Arbeit in den SteinbrĂŒchen so normal wie die geflĂŒsterten Worte und die neu gegrabene Kammer unseres Baus, in der wir nun unser Gold aufbewahrten.

Eines Nachmittages kamen die Arbeiter aus dem Steinbruch zurĂŒck ins Dorf. Doch es wurde nicht wie sonst geschwatzt und von dem nahenden Mittagessen geschwĂ€rmt. Nein, nicht heute. Im Zentrum der kleinen Kolonne wurde ein in Decken gewickeltes BĂŒndel von vier Erwachsenen getragen. Es bewegte sich nicht. SpĂ€ter erfuhr ich, dass es der kleine Ludoc gewesen ist. Eine ungeplante Explosion in den Minen hatte ihn unter den Felsmassen begraben, die Arbeiter erzĂ€hlten, dass sie ihn erst nach stundenlanger Arbeit aus dem eingestĂŒrzten Tunnel bergen konnten. Ludoc hatte erst vor wenigen Wochen angefangen im Steinbruch zu arbeiten. Seine Mutter hatte sich um den Bau kĂŒmmern mĂŒssen, und seine Ă€lteren Geschwister und sein Vater gehörten zu der Truppe, die mein Bruder einmal im Monat aussandte, um mit den Menschen Handel zu treiben. Sie waren nie lĂ€nger als ein paar Tage im Dorf, der Weg bis zur Menschenstadt ist weit. Nun brauchten wir Gold zum Überleben, da viele von uns im Steinbruch arbeiteten und die alltĂ€glichen Arbeiten nicht mehr verrichten konnten. Also kauften wir unser Mehl und selbst Fleisch, GemĂŒse, Obst und Brennholz bei den Menschen. Anstatt im Einklang mit der Natur zu leben, so wie frĂŒher, fingen wir an, sie systematisch auszubeuten.

Von den Ereignissen des Tages schockiert machte ich mich auf, meinen Bruder zu suchen. Ich fand ihn schließlich auf einer Lichtung, die eine halbe Stunde Fußmarsch vom Dorf entfernt war. Er stand mit dem RĂŒcken zu mir, der untergehenden Sonne entgegen blickend. Ich trat nĂ€her und ließ einen trockenen Ast unter meinem Fuß zerbrechen, um ihn nicht mit meinem plötzlichen Auftauchen zu erschrecken. Er drehte sich zu mir um und sah mich eine lange Zeit schweigend an. Dann wandte er sich wieder der Sonne zu.
„Warum bist du hier?“ fragte er mit leiser Stimme.
Ich wusste zunÀchst nicht, was ich antworten sollte. Warum war ich hier? Um ihn zu trösten? Nein. Mein Bruder brauchte keinen Trost. Um meinen Schmerz mit ihm zu teilen? Das hatten wir seit langer Zeit nicht mehr getan. Warum also war ich hier?
„Warum bist du hier?“ fragte ich schließlich.
Das war tatsÀchlich eine gute Frage. Als Dorfoberhaupt sollte er eigentlich den Trauerfeierlichkeiten beiwohnen. Er sollte der Familie des Verstorbenen einen Besuch abstatten. Sollte zeigen, dass ihr Verlust ebenso seiner war.
Ich sah, dass er einmal tief einatmete, bevor er antwortete.
„Der Tod des Jungen ist tragisch, ja. Aber was habe ich damit zu tun?“
Ich konnte nur unglĂ€ubig auf seinen RĂŒcken schauen. Endlich drehte er sich wieder zu mir um.
„Was habe ich damit zu tun? Ist es denn mein Fehler, dass die Sprengladung, die fĂŒr den Osttunnel vorgesehen war hochgegangen ist? Ist es mein Fehler, dass er in einem unautorisierten Abschnitt herum gelaufen ist? Was soll ich denn tun?“
Seine Stimmer wurde immer bitterer. Es schwangen ein Hass und eine Verachtung in ihr mit, die mich erschreckten. Er kam nÀher, seine Augen fest und unbarmherzig auf mich gerichtet.
„Was soll ich tun, Tahwyn? Soll ich ins Dorf gehen, ein paar TrĂ€nen verstecken, die es garnicht gibt und darauf warten, dass ich eine gefĂŒhlsduselige Rede halten darf? Eine Rede ĂŒber einen dummen Jungen, der sich verlaufen hat und jetzt wenigstens endlich gelernt hat, dass er seine Nase nicht in Angelegenheiten zu stecken hat, die ihn nichts angehen. Was soll ich diesen Leuten sagen? Er war schwach. Er hatte Pech. Das war nicht mein Fehler.“
Mit tödlich kalter Stimme erwiderte ich, „Vater wĂŒrde sich schĂ€men. Wie kannst du nur so reden?“
„Vater war schwach, genau wie dieser Junge. Sie haben bekommen, was sie verdient haben.“
Meine Augen wurden groß. Konnte es sein? Nein, dieser Gedanke war zu abwegig. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein.
„Ja. Jetzt fĂ€ngst du endlich an zu verstehen.“ Ein irrer Glanz war in die Augen meines Bruders getreten. „Dein lieber Vati, dein großer Held, hatte mir nichts entgegenzusetzen. UnterschĂ€tze niemals dein eigen Fleisch und Blut, Schwesterherz. Aber mich, mich hat er ja nie gesehen. Du warst schließlich sein Liebling. Seine kleine Prinzessin, sein Herzblatt.“ Ein schauerliches Kichern. „Jetzt sehen wir ja, wohin es dich und ihn gebracht hat.“

Ich sah ihn mit TrĂ€nen in den Augen an. Ich konnte einfach nicht verstehen, was er mir sagte. Mein Bruder? Mein eigener Bruder, der mir erst vor scheinbar einigen Tagen beigebracht hatte, wie man eine MĂŒnze verschwinden lĂ€sst und wasserfeste Farbe mischt, nur um heimlich in der Nacht den Nachbarskindern ihre Nasen rot anzumalen. Mein Bruder sollte dieses unglaubliche Grauen heraufbeschworen haben. Außer mir vor Zorn und Verzweiflung forderte ich ihn auf, das Dorf zu verlassen. Ich sagte, dass ich es niemandem erzĂ€hlen wĂŒrde. So wĂŒrde ihm wenigstens die Schande erspart werden, vor dem ganzen Dorf als Mörder enttarnt zu werden. Seine Verbannung jedoch war gewiss. Er zog den Dolch, den er seit seiner Ernennung stets bei sich trug und kam drohend auf mich zu. Ohne einmal mit der Wimper zu zucken, zog ich das kleine Wurfmesser aus meinem Stiefel und warf es. Es traf sein Ziel. Wie konnte es auch nicht, nachdem mein Vater starb, habe ich es im Messerwerfen zur Meisterschaft gebracht. Ich hĂ€tte ihn mit verbundenen Augen getroffen. Vor Grauen ĂŒber meine eigene Tat zitternd rannte ich fort. Fort von dieser Lichtung, fort von unserem Dorf, meiner Mutter, von allem was ich kannte und liebte. Mein zu Hause war mir fremd geworden, genau, wie ich mir selbst fremd geworden bin.

Ich sah nie zurĂŒck.

Die nÀchsten 40 Jahre verbrachte ich in der Wildnis. Ich streifte durch dunkle WÀlder und einsame Steppen. Wanderte durch verlassene TÀler, passierte schneebedeckte Berge und sprach mit niemandem. Ich mied die Gnome, ebenso wie die Zwerge, Menschen und Halblinge. Die Natur gab mir alles was ich brauchte und im Gegenzug widmete ich ihr mein ganzes Leben. Die Tiere wurden meine Freunde. Wohin ich auch ging, stets war ein GefÀhrte bei mir.
Eines Tages wanderte ich an den AuslĂ€ufern eines hohen Gebirgszugs entlang und entdeckte eine Höhle. Ich spĂŒrte die Anwesenheit eines Tieres, also trat ich ein, um mich vorzustellen und um Unterschlupf fĂŒr die Nacht zu bitten. Ich fand eine riesige Fledermaus, grĂ¶ĂŸer, als alle die ich bisher gesehen hatte. Sie nahm mich freundlich auf und als ich am nĂ€chsten Morgen gehen wollte, begleitete sie mich, seitdem reisen wir zu zweit.
Unser Leben verlief ruhig, bis wir eines Morgens in einer trockenen Steppe ein seltsames Erdbeben spĂŒrten. Ein riesiges Tier wĂŒhlte sich offensichtlich in einiger Entfernung durch den Boden. Von Neugier gepackt, folgten wir seiner FĂ€hrte.

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